Predigt vom 5. Juli 2020

Predigt - 4. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juli 2020 - Johanneskirche Alterlangen

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.  

(Römer 12, 17-21)

Liebe Gemeinde!

I.

Vor wenigen Tagen sah ich einen Krimi. Der Ermordete - die gibt's da ja im besonderen - sorgte bei den Kommissaren für Erstaunen im Blick auf seinen Beruf: Er war Leiter einer "Rache-Agentur". Ja, es gibt solche Einrichtungen tatsächlich. Wo man für Geld einen Racheplan ausarbeiten lassen und kleinere oder größere Heimzahlungsaktionen beauftragen kann. "Rache", heißt es da, "ist Psychohygiene", will sagen, sie schaffe Genugtuung für erlittene menschliche, seelische Verletzungen und könne das verlorene innere Gleichgewicht wiederherstellen.

In einem weiteren Portal werden einem selber Ratschläge gegeben, wie man anderen etwas heimzahlen kann. "Hast Du es satt, immer das Opfer irgendwelcher Mitmenschen zu werden, die ihren Spaß auf Deine Kosten haben? Egal, ob Du eine völlig verschüchterte Ehefrau bist, ein gemobbter Schüler, ein entlassener Arbeitnehmer... Ich selbst", sagt der Autor dieses Portals, "wollte nur eins: Es diesen Menschen (, die mir etwas angetan haben,) heimzahlen, und das tat gut, sehr gut!“

Ja, liebe Gemeinde – die hier beschriebenen Gefühle kennen wir auf die eine oder andere Weise alle. Zugegeben: die Gefühle tiefer Erniedrigung, Einschüchterung und Angst sind schlimm und weit verbreitet; kaum ein Tag, an dem uns nicht irgendwie so etwas geschieht. Unser Ich schreit nach Genugtuung. Unser innerster Kern - er ist sehr verletzlich, und er wird ständig verletzt. Nehme sich keiner davon aus, liebe Gemeinde. Wir alle suchen irgendwann nach Vergeltung, nach irgendeiner Form von Rache, weil wir glauben, wir brauchen das für unsere innere Gesundheit bzw. Psychohygiene".

II.

"Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

Das klingt im Wortsinne "weltfremd" - vor allem auch, wenn wir auf das größere Weltgeschehen blicken. Da spricht man im Kriegs-Jargon von "Rache-Feldzügen". Der 1. Weltkrieg vor etwas über 100 Jahren: Das Attentat in Sarajewo brauchte offenbar angemessene Rache, die Kriegserklärung, die Millionen in den Tod gerissen und unzählbares Leid gebracht hat, gerade auch über die, die angefangen haben.

Und Hitlers Satz aus der Rede 1939 "Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen" war einer der großen Fakes, einer der folgenreichsten politischen Lügen der Geschichte. An Fake-News haben wir uns in letzter Zeit leider gewöhnen müssen.

Aus dem zerrütteten Verhältnis von Israelis und Palästinensern kennen wir die Rede von den Vergeltungsschlägen, aus Indien ist bekannt, dass selbst Regionalpolitiker auch bei kleinen Vergehen den Mitmenschen Racheakte an Familienmitgliedern geradezu anordnen.

Das Entscheidende ist: Der menschliche Schaden und das Leid, das nun einmal durch irgendeine Tat oder ein Wort entstanden ist, werden durch Rache und Vergeltung nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil größer.

Rache, Vergeltung, Strafe – das führt in das schwierige Gebiet von Unrecht und Recht, von Gut und Böse.Und dann sind auch die Fragen da: Muss ich mir alles gefallen lassen? Muss ich mich, muss sich eine Gesellschaft nicht wehren, schützen? Ist Strafe Rache, Vergeltung? Was ist mit Wiedergutma-

chung für geschehenes Unrecht? Wie steht es mit der Verhältnismäßigkeit der Mittel?

Es wird schwierig. Denn so berechtigt vieles ist, es führt in das Karussell der Selbstrechtfertigung hinein. Das verletzte Ich, mein eigenes und auch das verletzte kollektive Ich einer Gesellschaft, meldet sich allzu oft. Und alles lässt uns nur tief in die dunklen Räume unserer Seele blicken.

III.

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Doch auch Paulus schränkt scheinbar ein wenig ein, er rudert etwas zurück: „Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Und wenn es gerade uns nicht möglich ist?

Grundsätzlich wäre da nicht viel Hoffnung - wenn, wenn nicht da jene andere Tür aufgemacht würde:

„Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): ‚Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.’“

Gott kommt ins Spiel, ganz wörtlich, er kommt in das unselige Spiel um Genugtuung, Vergeltung, Rache als Player hinein, wie wir heute sagen würden. Gott bringt sich selbst ins Spiel.

„Die Rache ist mein, spricht der Herr.“ Gott selbst als "Rache-Agentur"?

Das lässt sich freilich auch ganz anders lesen. Und nur so bringt es uns weiter. Nämlich so: Gott zieht alle Rache, alle Vergeltung auf sich; er zieht gleichsam sogar das Böse in sich selbst zurück; er zieht es von uns ab und zieht es auf sich.

Aber nun nicht, um selbst gleichsam in unserem Namen zuzuschlagen. Das meinen immer noch viele, oder sie wünschen es sich im geheimen mindestens, dass Gott straft und zuteilt, je nach Verhalten, Wohl- und Fehlverhalten. Und so müsse alles Unrecht sich irgendwann schon auswirken. Es gibt nicht wenige Christinnen und Christen, die heute noch Unglücke als Strafen Gottes ansehen, zum Beispiel gerade jetzt wieder: die Corona-Pandemie. Jesus selbst hat diesen unseligen Zusammenhang des Urteilens, Verrechnens und Richtens außer Kraft gesetzt. Nein, es ist uns nicht möglich, an Gottes Stelle oder gleichsam wie Gott etwas zu beurteilen.

Nein. Gottes ist die Rache nicht, weil er in unserem Namen zuschlägt, sondern, weil er das Böse ins Leere laufen lässt.

IV.

Das Böse – liebe Gemeinde – was ist das? Wo kommt es her? Eine schwere Frage, die Menschen umtreibt. Und die auch uns beschäftigen soll. Drei wesentliche Möglichkeiten gibt es, auf diese Frage eine Antwort zu finden:

Eine Möglichkeit wäre, eine grundlegend böse Macht, oder gar eine dem Guten gegenüber stehende Person anzunehmen: den Teufel etwa. In der Bibel kommt der Teufel weniger vor als man denken möchte, und durchaus nicht einheitlich.

Eine zweite Möglichkeit ist, das Böse als Möglichkeit anzusehen, die in uns, im von Gott geschaffenen Menschen selbst liegt, in seiner Freiheit, die eine Entscheidung für gut oder böse immer in sich trägt.

Eine dritte Möglichkeit ist, auch das Böse in Gott hinein zu denken. Es gibt auch dafür biblische Spuren.

Alle drei Möglichkeiten bringen Probleme mit sich, für das, was in unserer Welt geschieht, für Gut und Böse überhaupt und vor allem für das Bild von Gott. Sie zeigen, dass wir keine Antwort finden können.

Nähmen wir einen großen Widersacher, eine "Person des Bösen" an, dann würden wir uns gleichzeitig damit ja entlasten. Wir wären dann eventuell gar nicht verantwortlich für das Böse, was aus unserem Tun erwächst. Und Gott wäre nicht Gott, wenn es neben ihm eine andere negative "Person" gäbe.

Würden wir das Böse allein in uns hineindenken, wären Katastrophen, Unglücke, Pandemien, Corona nicht erklärbar. Und Gott müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, einen so unvollkommenen Menschen erschaffen zu haben.

Denken wir das Böse in Gott hinein, wären wir wiederum entlastet, und: Jesus wäre im Unrecht, wenn er sagt: "Niemand ist gut, denn allein Gott."

Woher kommt das Böse? Was, wer ist das Böse? Das bleibt eine offene Frage. Mindestens bis wir, wie es der Theologe Karl Barth einmal gesagt hat, Gott einmal selbst danach fragen können.

Offen bleibt aber nicht die andere Fragerichtung, und so fragt Paulus hier: Wohin geht das Böse? Wohin kann es gehen? Um überwunden zu werden?

Gott, so hören wir hier, zieht das Böse von uns weg auf sich zu, in sich hinein. „Gebt Raum dem Zorn Gottes, dem Zorn, der darauf gerichtet ist, das nicht Gute zu verwandeln!“ So sieht die Rache aus, die Gott uns abnimmt.

Mir hilft manchmal der physikalische Satz von der Erhaltung der Energie. Er besagt, einfach gesprochen, dass die Gesamtmenge der Energie in einem System nicht veränderbar ist. Sie ist da, kann nicht einmal erzeugt oder vernichtet werden. Energie lässt sich aber umwandeln. Es lässt sich gleichsam das Vorzeichen in dem ganzen Gefüge ändern. Vergleichbar können wir es bei Gott sehen: "Mein ist die Rache, spricht Gott" - "Ich, Gott, kann negative Energie verwandeln."

Wie das aussieht, wie Gott Rache übt, sehen wir an Jesus. Sein gesamtes Leben war darauf ausgerichtet, das Böse ins Leere laufen zu lassen, um es dadurch zu überwinden, um ihm ein neues Vorzeichen zu geben, um es zu verwandeln. Gleichsam Vergeltung in Vergebung zu verwandeln.

Er heilte Menschen – leiblich und seelisch, er machte heil, was krank war; er sprach Vergebung zu, Vergebung, den Verzicht auf Rache. Er gab niemanden auf, er wies den Weg und er wies zurecht; was er tat und was er war, lässt sich nur mit Liebe umschreiben. Er provozierte die Menschen zu neuem Verhalten: Wenn dich einer eine Meile zu gehen zwingt, dann geh zwei; wenn dich einer auf die eine Backe schlägt, reich ihm auch noch die andere hin. Am Ende ließ er sich verurteilen und hinrichten, ohne Schuld; an ihm konnten Menschen ihre Häme auslassen – ja an ihm konnte sich das Böse austoben.  Sein Credo war: „Ich bin unter euch wie ein Diener“ – und so soll es auch unter euch sein!

Diener des Guten, damit alle heil werden.

Und so ist das Kreuz der Ort, an dem das Böse seinen endgültigen Platz gefunden hat; und es ist daher der Ort der Versöhnung.

Sir Francis Bacon, der Philosoph meint: „Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.“

Das gilt freilich in besonderer Weise für Gott, der die Rache an sich zieht: Wie es der Theologe Eberhard Jüngel zu Recht in einem starken Bild so gesagt hat: Die Wunden Jesu sind die einzigen in der Welt, die nicht heilen dürfen, damit der Ort des Bösen offen gehalten wird, um überwunden zu werden, und damit alle anderen menschlichen Wunden heilen können.

In einem neuen Passionslied von Kurt Ihlenfeld heißt es in der letzten Strophe:

"Wir sind nicht mehr die Knechte / der alten Todesmächte / und ihrer Tyrranei. / Der Sohn, der es erduldet, / hat uns am Kreuz entschuldet. / Auch wir sind Söhne (und Töchter ist zu ergänzen) und sind frei."

Ja: Wir sind nicht mehr verdammt zum Bösen, ausgeliefert irgendwelchen dunklen Mächten; sondern frei, ermächtigt zum Guten. Paulus richtet keine frommen halbherzigen Ermahnungen an uns, sondern er erinnert daran, dass wir, wie es im 1. Johannesbrief heißt, die Macht haben, Gottes Kinder zu sein. Christinnen und Christen haben oft eine unbegründete Angst vor der Macht. Paulus ermutigt uns: "Ich kann alles durch den, der mich ermächtigt: Christus." "Yes, we can" - diese drei Wörtchen von Barack Obama sollten nicht nur im jetzigen Amerika neu gehört werden.

Im Segen, den wir bei der Konfirmation austeilen, heißt es so schön: „Gott schenke dir seine Gnade, Schutz und Schirm vor allem Bösen, Stärke und Hilfe  z u  allem Guten, dass du bewahrt wirst zum ewigen Leben.“

Ermächtigt zum Guten – das braucht immer wieder Ermutigung, weil wir Rückschläge erleiden und aus uns selbst oft zu schwach sind. Vier Ermutigungen will ich nennen.

V.

1. Ich habe in meiner Leipziger Zeit den evangelischen Pfarrer Christian Führer von der Nikolaikirche kennen gelernt. Führer hat immer wieder erzählt, dass man den Menschen damals bei der "Wende" 1989 ein Liederheft in die eine Hand gedrückt hat, und eine Kerze in die andere. So hatte, wie er sagte, niemand eine Hand frei, um einen Stein werfen zu können. Durch Lied und Kerze gebundene Hände – Wurzeln realer Freiheit zum Guten. Wer hätte es geglaubt?

Sage niemand, die großen Verhältnisse ließen sich nicht gewaltfrei ändern!

2. Von einem alten chinesischen Kaiser wird berichtet, dass er seine Feinde besiegen und sie alle vernichten wollte. Später sah man ihn mit seinen Feinden speisen und scherzen. „Wolltest du nicht die Feinde vernichten?“ fragte man ihn. „Ich habe sie vernichtet“, gab er zur Antwort, „denn ich machte sie zu meinen Freunden und gab ihnen zu essen und zu trinken!“

3.  Es ist 2005 im Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland. Ismael Khatib, seine Frau Abla und ihre Kindern leben dort, eine hochexplosive Zone. Ablas Kinder gehen zum Einkaufen. Mit Freunden spielen sie Krieg und halten Attrappen von Maschinenpistolen in der Hand. Eine Militärpatrouille erkennt die Attrappe nicht und erschießt Ahmed, eines der Kinder. Der Vater wird, erstaunlicherweise, im Krankenhaus gefragt, ob er bereit sei, seinen toten Sohn für Organspenden freizugeben. Ismael bespricht dies mit seiner Frau Abla, mit seinem Imam und dem Chef der militanten Al-Aksa Brigaden. Alle sind einverstanden.

Was für eine Geste!? 5 oder 6 Kinder erhalten lebenswichtige Organe und können von nun an ein normales Kinderleben führen. Unter anderem ein junges Mädchen aus einer ultra-orthodoxen jüdischen Familie.

Der ehemalige Botschafter Israels, Avi Primor, hält 2010 eine Laudatio für den Vater, zur Verleihung des hessischen Friedenspreises. Er sagt: „Nach jüdischem und islamischem Glauben rettet der, der ein Menschenleben rettet, die ganze Welt.“

„Geht nicht“, würde die Vernunft der Rache sagen. „Yes, we can“, sagt die Liebe.

4. Der Sohn von George Floyd, der in den USA durch fehlgeleitete Polizeigewalt umkam, hat eindrücklich an alle Menschen appelliert, keine Gegengewalt auszuüben. Unrecht wird nicht aufgehoben durch neues Unrecht. Aber Vergeltung wird verwandelt durch Vergebung, in Vergebung.

VI.

Ein kurzes Gedicht von Rainer Kunze kommt mir in den Sinn:

Schnelle Nachtfahrt heißt es: Niemals wird es uns gelingen / die welt zu enthassen / Nur dass am ende / uns nicht reue heimsucht / über nicht geliebte liebe(Reiner Kunze, Gedichte, Frankfurt, 2001, S.258)

Ja, wir werden bei aller Ermutigung Rückschläge erleiden, und wir werden die Welt nicht „enthassen“, nicht wir allein; aber wir mögen davor bewahrt werden, „dass uns am Ende Reue heimsucht über nicht geliebte Liebe!“

Also denn:

Wen möchte ich mir heute zum Freund machen? Welches Telefonat ist heute zu führen? Welcher Brief ist zu schreiben? Von welcher, auch politischen, Überzeugung muss ich mich heute (!) verabschieden? Für wen möchte ich heute beten? Wem möchte ich heute vergeben? Wen möchte ich Gott allein anempfehlen?

Vielleicht geschehen gerade heute dabei Wunder.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Yes, we can.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Pfarrer Christoph Reinhold Morath - cr-m [klammeraffe] gmx [punkt] de

Es gilt das gesprochene Wort.

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