Text: Johannes 12,12-19
Liebe Schwestern und Brüder!
Unsere beiden Bibellesungen – die Evangelienlesung aus dem Johannesevangelium und die Brieflesung aus dem Philipperbrief – werfen uns eine erschreckende und erdrückende Spannung auf: die Szene einer Erhöhung, einer begeisternden Feier durch die Menschen, und die Einsicht in tiefste Erniedrigung, dass sich Jesus Christus dem Leiden unterworfen habe, sich noch unter uns Menschen erniedrigt habe.
Im letzten Jahr waren wieder in Oberammergau die Passionsspiele. Leider hatte ich keine Gelegenheit, sie persönlich zu sehen. Aber von dem her, was ich schon im Fernsehen oder in Zeitschriften gesehen habe, habe ich ein Gefühl: Das Nachspielen des Einzugs Jesu in Jerusalem stellt gewiss einen Schwerpunkt dar: Jesus umringt von der begeisterten Menschenmenge, die ihn verherrlicht!
Als ich in den 80-iger Jahren beim Lutherischen Weltbund in Genf arbeitete, war ich natürlich regelmäßig in die Gottesdienste in der evangelisch-lutherischen Kirche an der Place du Bourg-de-Four gegangen. Zwei Gemeinden feiern dort immer Gottesdienste: unsere deutsch-sprachige evangelisch-lutherische Gemeinde und die englisch-sprachige evangelisch-lutherische Gemeinde. Zu einem Palmsonntag war ich auch für den englisch-sprachigen Gottesdienst geblieben und konnte erleben, wie in der weiten Christenheit Palmsonntag oft begangen wird: Wir versammelten uns draußen auf dem Platz. Dann wurden Palmzweige verteilt. Und schließlich zogen wir begeistert in die Kirche ein. Wir hatten also den Einzug Jesu in Jerusalem nachgespielt.
Über Ostern 2006 war ich in Gemeinden der Romániai Evangélikus Lutheránus Egyház, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rumänien, einer vor allem ungarisch-sprachigen Kirche. Am Ostersonntag, dem 16. April, war ich in Nadlac, in einer slowakisch-sprachigen Gemeinde dieser Kirche. Nach dem Gottesdienst ging Dekan Balint mit mir auch in die rumänische orthodoxe Gemeinde am Ort, um diese Gemeinde zu grüßen. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Mir fielen aber schon beim Hineingehen viele schwarze Tücher und Fahnen auf, die dem Gottesdienstraum einen Eindruck der Trauer vermittelten: Damals war in dieser Gemeinde Palmsonntag, also der Beginn der Karwoche!
An jenem Sonntag hatte ich also die angesprochene Spannung direkt miterlebt: Zuerst das begeisternde Bekenntnis zu Jesus dem Auferstandenen, der Beginn der Osterwoche, und dann die Ahnung des Weges zum Kreuz, des Weges in die tiefste Erniedrigung, des Beginns der Karwoche. Diese Spannung müssen auch wir für unser Leben festhalten: Das Aushalten von Leid und Schmerzen, von Zurücksetzungen und Enttäuschungen. Und, dass wir uns klammern können an die Hoffnung, dass es einen unvergleichlichen Sieg geben wird, den Einzug in das wahre Leben, in die Herrlichkeit mit Christus. Wie es das alte, frühchristliche Lied im Philipperbrief zum Ausdruck gebracht hatte:
„Er erniedrigte sich selbst
und ward gehorsam bis zum Tod“ (Philipper 2,8a).
Eine Aussage, der Paulus hinzugefügt hatte:
„ja, zum Tode am Kreuz“ (Vers 8b).
Dieses Lied im Philipperbrief, das so großartig endet:
„Darum hat ihn auch Gott erhöht […],
dass […] alle Zungen bekennen sollen,
dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes des Vaters“ (Verse 9a.11).
Es gibt also keine einlinige Antwort, keine ausschließliche Aussage in die eine oder in die andere Richtung. Wir müssen beides festhalten. Wir dürfen nichts verdrängen. Aber das Ziel wird der Weg in die Herrlichkeit sein!
Schauen wir uns das begeisterte Bekenntnis der Menschen in Jerusalem genauer an:
„Hosianna!
Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn,
der König von Israel!“ (Vers 13b).
Beginnen wir mit dem ersten Ruf: Eigentlich heißt er הוׄשׅעׇה נׇא / »Hoschicah Na’« – „Rette doch!“, „Hilf doch!“ Hier äußert sich also keine Begeisterung.
Sondern es äußert sich die Hoffnung, dass dieser Jesus im Leben helfen kann. Dass er aus Not und Leiden herausführen wird.
Kennen wir diesen Ruf, diese Erwartung, diese Hoffnung? Dass – so müssen wir das ja nun sagen und denken – der Auferstandene wirklich helfen kann. Dass er hoffnungsvolle Wendungen in unserem Leben eröffnen wird. Aber auch: Dass er uns auffängt in tiefster Angst und Not.
Die Menge hat hier aus Psalm 118 zitiert, einen Psalm gebetet, mit dem Gott, der Herr, angeredet wird: „Ach doch, Herr: Rette doch!
Ach doch, Herr: Lass doch gelingen!
Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn!“ (Psalm 118,25-26a).
Und das Volk hat mit einem Begriff aus dem Büchlein des Propheten Zefanja geendet:
„Der König von Israel“.
Solche Sätze und Begriffe kann ich nur mit meinen Erfahrungen als früherer DDR-Bürger lesen: Die verborgene, aber eigentliche Aussage ist die Verneinung, ist die Ablehnung damaliger politischer Ansprüche: Jesus ist derjenige, der retten und helfen kann. Nicht: Pontius Pilatus! Nicht: Herodes Antipas!
Genauso ist die verborgene, aber eigentliche Aussage auch heute eine Verneinung, eine Ablehnung von Ansprüchen:
Christus ist der Retter! Nicht: Erich Honecker!
Christus lässt das Leben gelingen! Und wenn unsere Politikerinnen und Politiker gut sind, dann erheben sie selber einen solchen Anspruch gar nicht erst.
Wenn diese Wahrheit im gesellschaftlichen und politischen Leben gilt, dann erst recht für das persönliche Leben. Ich darf eine Lebenswirklichkeit andeuten: Wenn zum Beispiel eine Frau oder ein Mann unserer Gemeinde durch eine grundlegende Gefährdung der Gesundheit gehen muss, dann wird meist folgender Weg auferlegt: Zuerst muss die ernüchternde Auskunft der Ärztin oder des Arztes an sich herangelassen werden. Dann aber werden vielleicht – vielleicht erst einmal ganz vorsichtig – Sätze ausgesprochen, durch die Hoffnung entstehen kann.
Zum Beispiel: Es wurde ein Non-Hodgkin-Lymphom diagnostiziert. Gleich wurde gesagt: „Es wird schwer werden. Aber es gibt die begründete Hoffnung auf wirkliche Heilung.“ Als mich diese Diagnose getroffen hatte, mir diese Andeutungen vorgetragen worden waren, habe ich in der Bibel nach einer Hilfe gesucht – merkwürdigerweise gar nicht lange gesucht, sondern im Buch Hiob nachgeschlagen und in Kapitel 2, Vers 10, eine Hilfe gefunden:
גַּם אֶת הַטּוֺב נְקַבֵּל מֵאֵת הָאֱלֺהִים וְאֶֶת הָרָע לֺא נְקַבֵּל / »gam ’ät Hattow neqabbel me’et Hā’Älohim we’ät Hārāc lo’ neqabbel« – „Haben wir auch das Gute von Gott angenommen und sollten das Böse nicht annehmen?“ Ein Wort, das ich seither auswendig weiß, natürlich im Hebräischen auswendig weiß.
Für mich war auch der schwere Weg nicht fern von Gott. Auch auf diesem Weg konnte ich daran festhalten, dass Gott es gut meint, dass Gott rettet. Diese Ahnung wünsche ich auch Ihnen allen: Hoffnung auch dann, wenn Sie sich ganz unten fühlen. Denn wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände!
Wie es der damalige Marinepfarrer Arno Pötzsch im Jahr 1941 gedichtet hatte:
„Du kannst nicht tiefer fallen
als nur in Gottes Hand,
die er zum Heil uns allen
barmherzig ausgespannt.
Es münden alle Pfade
durch Schicksal, Schuld und Tod
doch ein in Gottes Gnade
trotz aller unsrer Not.
Wir sind von Gott umgeben
auch hier in Raum und Zeit
und werden in ihm leben
und sein in Ewigkeit.“
Amen.
© Dr. Stahl
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